Fehlbewertungen_1: chronische Wirkschwellen 1/1000 der akuten

Es werden toxikologisch mehrere Wirkschwellen unterschieden. Hier soll nur von der zeitlichen Unterscheidung die Rede sein: Akute und chronische toxische Wirkungen. Die einen zählen nach Stunden und die anderen gegebenenfalls nach Jahren. Grob geschätzt, aber immer wiederkehrend, liegt der Unterschied in der Dosishöhe etwa bei einem Faktor 1000. Unsere allgemeinen Vorstellungen orientieren sich an der akuten Wirkschwelle (manchmal gar an der letalen Dosis), d. h. wir liegen in unseren Vorstellungen auch um einen Faktor 1000 falsch.

Die krankmachenden Überschreitungen der chronischen Wirkschwelle werden als Bagatelle gesehen und auch so bewertet, obwohl die tatsächliche Wirkschwelle bekannt ist.

Ich will mit dieser Darstellung erreichen, dass in der öffentlichen Diskussion überhaupt registriert wird, dass die Mehrzahl der Grenzwerte gar nicht vor einer chronischen Erkrankung schützen können, weil sie an kurze Zeiträume gekoppelt sind. So akzeptieren etwa die Sachbearbeiter der Berufsgenossenschaften nur „zeitnahe” Reaktionen auf Expositionen. Auch die Arbeitsmedizin registriert nur solche Akutreaktionen. Bei Kopfweh, nach einem Tag Inhalation von Schadstoffen, kann erwartet werden, dass sich der Betroffene erholt und es kann auch erwartet werden, dass sich die Situation so nicht wiederholt, d. h. dass etwas an der Situation geändert wird. Einer solchen Situation entspricht der Grenzwert „MAK“ (max. Arbeitsplatzkonzentration). Es ist ein Akut-Wert. Er orientiert sich an der akuten Wirkschwelle.

Die MAK werden aber auch für chronische Belastung zur Bewertung herangezogen. Dazu sind sie einen Faktor 1000 zu hoch. Vergleicht man sie mit den RW1 des UBA, so ergibt sich wiederholt diese Differenz (genauer und vertiefend vorgerechnet und begründet für den TVOC (Gesamtsumme aller Lösemittel) in Merz et al. Merkblatt zur Bewertung von VOC-Gemischen, Wissenschaftlich begründete Wirkschwellen und rechtliche Wertung der Richtwerte, umg 18 4/2005).

So passt alles schön zusammen: Vorurteil, veraltete Grenzwerte, Ignorieren des Langzeiteffektes und eben immer mehr Kranke, was sich zwangsläufig aus dieser Situation ergibt. Den Kranken gegenüber zuckt man die Achseln und erklärt, eine Vergiftung sei wissenschaftlich ausgeschlossen, jede andere Spekulation aber diskussionswürdig.

Dagegen hilft kein ja „aber“, kein resignierender Zynismus, kein moralischer Zeigefinger, sondern nur die Aussage, dass gegenüber Tausenden fahrlässig bis vorsätzlich Körperverletzung praktiziert wird, mit gutachterlicher Beihilfe. Die Grenze zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz wird dabei regelmäßig überschritten, da angesichts der Fakten und der anhaltenden Diskussion stets ein gewisser Mutwille nachweisbar ist.

 

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