Höchstrichterlich zum Stand der Wissenschaft

In sozialgerichtlichen Verfahren entscheiden die Gutachter. Wahrheitskriterium ist der Stand der Wissenschaft.

Gerichte bewerten rechtlich. Die Misere der Nichtanerkennung und Psychiatrisierung chronisch Vergifteter liegt unter anderem daran, dass die Gerichte keine Überprüfung vornehmen, ob sich der Gutachter an die, so definierte, Wahrheit gehalten hat. Es ist eigentlich deren Pflicht, denn der „allgemein anerkannte Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis” ist ein Rechtsbegriff und das Amtsermittlungsprinzip macht eine solche Prüfung zu deren Aufgabe, ganz besonders dann, wenn die Klägerseite dies ausdrücklich rügt.

Dies bestätigt die höchstrichterliche Rechtsprechung (höchste Instanz) und zwar mehrfach. Das Bundessozialgericht (BSG) hat dazu drei Grundsatzurteile gefällt, zwei im Jahr 2006 und eins im Jahr 2011. Das BSG entscheidet auch entsprechend. Das jeweilige Landessozialgericht (LSG) hat „den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zugrunde zu legen, beziehungsweise den aktuellen Stand der Merkblätter etc. bei der Prüfung der objektiven Verursachung zu berücksichtigen” (BSG v. 24 Juli 2012, B 2 U 100/12, Unterstreichungen im Text des Urteils). Tut es das nicht, wird der Fall an das LSG zurückgewiesen.

In diesem Fall des BSG, von 2012, wurde zurückgewiesen. Aber das LSG scherte sich auch bei der erneuten Verhandlung nicht um das Merkblatt, die Diagnosekriterien, die WHO etc. Und beim zweiten Mal hat das BSG dies durchgehen lassen.

Nach meiner Erfahrung hat kein einziges Urteil, in Sachen BK 1317 (Tox. Enzephalopathie durch Lösemittel), das neue Merkblatt von 2005 zugrunde gelegt. Der wissenschaftliche Erkenntnisstand aus den ungeheuren wissenschaftlich-epidemiologischen Anstrengungen seit Ende der 80er Jahre und die Ordnung, die die WHO in einem entscheidenden Kongress (Kopenhagen 1985) in diesen Fundus gebracht hat, sind in der Rechtsprechung nicht angekommen. 1985 wurde die TE durch Lösemittel definiert. Zehn Jahre später wurde sie in Deutschland als Berufskrankheit (BK) anerkannt (1996). Dann wurde sie von Gutachtern der BG verfälscht (BK-Report 3/99). Nach Protest und Neuverhandlung im Sachverständigenbeirat wurde im Merkblatt von 2005 der anerkannte Stand der Wissenschaft nur teilweise wiederhergestellt. Und selbst das wurde und wird bis heute völlig ignoriert. Die Gutachter halten sich nicht daran. Die Kläger rügen dies nur selten und die Gerichte machen das nicht zur Prüfaufgabe.

Umweltschützer, Patientenorganisationen und Umweltmediziner gehen Rechtsfragen stets aus dem Weg, so auch verwandte Organisationen. Es ist kein Thema und auf die wenigen, die die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Praxis reklamieren, wird keine Rücksicht genommen. Hier rächt sich diese Zurückhaltung in Rechtsfragen. Aber das ist der Kern des Problems, warum chronisch Vergiftete ihr Recht nicht bekommen.

 

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