In der Rechtspflege des Sozialrechts hat es sich eingebürgert, dass die Gutachter alles entscheiden. Wenn es sich um die Feststellung eines Sachverhaltes handelt, ist das letztlich eine gutachterliche Frage. Insofern ist das also in Ordnung. Die Gutachter müssen aber die Wahrheit sagen und dafür gibt es rechtliche Kriterien.
Seit Jahrzehnten wird von den Betroffenen das Übel beklagt, dass sie nicht anerkannt und als Hysteriker verspottet werden. Das liegt daran, dass Letzteres nicht mehr kontrolliert wird. In diesem Blog wurde „Stand der Wissenschaft” als oberstetes Wahrheitskriterium mehrfach diskutiert. In diesem Blogartikel soll nun der Weg zur Wahrheitsfindung erläutert werden und wie und warum dieser Weg verlassen wurde.
Damit ist das sozialrechtliche Bewertungsschema gemeint. Dieses Schema ist in seiner Einfachheit und in seiner Trennschärfe genial. Allerdings kann ich mich nur an ein Urteil erinnern, bei dem es zur Anwendung kam und das ist schon wenigstens 20 Jahre her. Die Abfolge des Schemas wird unterlaufen, da anderenfalls offensichtlich werden würde, dass der Großteil der Unbedenklichkeitsgutachten auf voreiliger Schlamperei oder eben Gedankenlosigkeit beruhen.
Sozialrechtliches Bewertungsschema
Das Bewertungsschema des Sozialgesetzbuches (SGB) stellt sicher, dass alle relevanten Fakten berücksichtigt und voreilige Schlüsse vermieden werden:
- Nachweis der Exposition (Vollbeweis),
- Nachweis des Schadenseintritts (Vollbeweis),
- Nachweis der Kausalität (einfache Wahrscheinlichkeit im Sinne von „es spricht mehr dafür, als dagegen” – eine Abwägung),
und zwar in dieser Reihenfolge.
Demgemäß müssen die Tatsachen zuerst zweifelsfrei festgestellt werden. Dies erfordert jeweils den Vollbeweis. Dann erfolgt durch eine Abwägung aller Tatsachen gegeneinander die Frage nach der Wahrscheinlichkeit der Kausalität. Jene Schrittfolge ist stets einzuhalten. Geschieht dies nicht, führt es unweigerlich zu Fehlschlüssen, insbesondere, wenn
- das Verfahren lange andauert, was immer der Fall ist, weil die Berufsgenossenschaft (BG) stets dafür sorgt. Denn meist ist die Kausalität schon am Anfang offensichtlich. Um dies zu verwischen, sind mehrere Maßnahmen erforderlich. Außerdem schwächt das, in die Länge ziehen, die Klägerseite.
- notwendige Ermittlungen unterblieben, was immer der Fall ist, weil die BG die Verwaltungsakte beherrscht. Besonders, wenn solche Untersuchungen unterbunden werden, bläht es die Akte auf. Dabei kann das obige Schema Klarheit durch Ordnung schaffen.
- der Gegenstand sehr komplex ist, wie in jedem Fall chronischer Vergiftung
- eine „schleichende“ Progredienz (Verschlechterung) über einen langen Zeitraum wirkt.
Die Liste der Spiegelstriche zeigt die vielfältigen Möglichkeiten, Zweifel anzumelden, die vernünftig klingen. Und Beweis ist erst dann geführt, wenn vernünftigen Zweifeln Schweigen geboten ist.
Die entscheidenden Fehler findet man, wenn man das Schema einhält: Erst die Tatsachen ohne Weglassungen und ohne voreilige Aussortierungen – dann die Abwägung des FÜR und WIDER zur Kausalität. Es sind die Auslassungen, die zu den Fehlschlüssen führen.
Charakteristisch ist ganz besonders das Fehlen der Kausalitätsabwägung. Denn diese bringt in der Mehrheit der Fälle den Zusammenhang von Krankheit und Exposition mit den Arbeitsstoffen zu Tage. Denn chronische Vergiftungen zeigen eine charakteristische Struktur der Symptome, deren Verläufe und der Laborparameter. Da gilt es viel gegeneinander abzuwägen. Genau das führt aber, trotz der Komplexität, zu einem sicheren Schluss. Denn es gibt keine alternativen Strukturen, eine psychosomatische schon gar nicht.
Die Fehlbewertungen der Urteile beruhen auf Arbeitsersparnis. Die Gutachter suggerieren den Gerichten, dass ein solcher Aufwand nicht nötig sei, indem sie „Abkürzungen” vornehmen. Damit wird das Gutachten keineswegs kürzer oder einfacher, es sichert nur das Fehlurteil. Sie erfinden etwa angebliche, spezifische Parameter, die bei chronischen Vergiftungen nicht existieren oder bestenfalls nur bei hohen Dosen vorkommen. Teilweise sind solche Gutachten durchaus weitschweifig, denn matte Gedanken fassen sich selten kurz. Richtige Gutachten sind meist kürzer, denn die Berufskrankheiten (BK’n) sind wissenschaftlich definiert. Weitschweifig wird es dagegen immer, wenn das Offensichtliche verbogen werden soll. Bei den „Abkürzungen“ wird das oben beschriebene Schema durchkreuzt und die Abwägung der Gründe wird verhindert. Das „kürzt” die rechtliche Bewertung in der Tat, doch so, dass ein stimmiges Bild zerstört wird.
Es ist nun so, dass sich auch die Klägerseite nicht die Mühe macht, ihren Vortrag sozialrechtlich korrekt zu ordnen. So kann die jeweils beklagte BG immer wieder eine neue Ausrede ins Spiel bringen. Und die Gerichtsakten füllen sich mit endlosen Diskussionen über abwegige Themen, Nebenkriegsschauplätzen und dergleichen. Leider haben auch oft die Kläger selbst ein Faible für abwegige Themen. Das sozialrechtliche Schema ist ein sehr gutes Gegengift gegen ausufernde Scharmützel auf Nebenkriegsschauplätze, aber keiner nutzt es – Schaden haben davon nur die Kläger und das sind die Betroffenen.
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