Wissenschaftlicher Kopfstand

Irreführung bei Gutachten gelingt am besten, wenn man beim Grundsätzlichen ansetzt. Da wagt keiner zu widersprechen.

Seit den Anfängen der modernen Medizin – gemeint ist während und nach der bürgerlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts – gilt die Epidemiologie als unwiderlegbarer Beweis, die Basis aller Erkenntnis. So weiß man seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, dass Ruß krebserregend ist. Die rußdichte Berufskleidung der Schornsteinfeger hat auch gewirkt. Erst Müller hat 1940 Benzpyren – und später auch andere Polyaromaten (PAK) – als den Stoff identifiziert, der dafür verantwortlich ist. Zur Bestimmung der Wirkstärke braucht es wieder gründliche Epidemiologie.

Die Toxikologie hat die Aufgabe zu erklären, was die Epidemiologie beweist. Deutsche Gutachter machen das andersherum.

Wenn von 17 Benutzern eines Büros 13 erkranken, fünf davon so schwer, dass sie arbeitsunfähig sind, ist es unerheblich, was die Schadstoffmessung ergibt. Vielleicht sind die Grenzwerte zu hoch, oder der wichtigste Stoff wurde nicht bestimmt oder es liegt ein besonders extremer Fall von Kombinationswirkungen vor oder ähnliches.

Die Rechtslage ist entsprechend: Bei Auffälligkeiten im Bereich Gesundheit ist Handlungsbedarf gegeben, sind diese signifikant, kann die Kausalität nicht widerlegt werden.

Doch viele Gerichtsgutachter stellen Wissenschaft und Recht auf den Kopf. Wenn der Gutachter findet, die gemessenen Schadstoffwerte erklärten die Beschwerden nicht unabweisbar, dann verneint er die Kausalität.

Im obigen Fall verneinte der Gutachter die Kausalität, weil einzig und allein der gemessene Toluolwert unter dem Grenzwert (MAK) lag. Nun, es wurden viele Schadstoffe nachgewiesen. Für viele gibt es noch keine Grenzwerte. Soweit erkennbar, gab es keine auffälligen Werte. Die VOC insgesamt reichten aber an die toxikologisch kritische Zone heran, aber kein Einzelgrenzwert. Toxikologische Bewertung nach Einzelstoffdaten ist aber seit Mitte der 80er Jahre out, wissenschaftlich falsch und demzufolge auch rechtlich nicht mehr zulässig.

Das zeigt die ganz Misere: Deutsche Gutachter bewerten nach einem Wissensstand der 70er Jahre.

Meine Erfahrungen aus den 80er Jahren haben mich überzeugt, dass die toxikologischen Daten nie ausreichen, das Risiko zu erkennen. Sie hinken immer hinterher. Man muss die Erfahrungen der Umweltmedizin hinzunehmen.

Sie machen das gerade Gegenteil: Der schon genannte Gutachter der Arbeitsmedizin attestiert eine toxische Enzephalopathie und verneint die Kausalität dennoch: Er setzt also bewußt unzureichende toxikologische Daten über die Umweltmedizin, ja sogar über die Epidemiologie. Der erste Fehler beweist nur, dass die Kenntnislage seit 30 Jahren überholt ist, der zweite Fehler bedeutet, dass das Gegenteil herauskommen soll, was wissenschaftlich offensichtlich ist.

Diese Sorte Wissenschaft wenden Sachbearbeiter der Versicherungen schon immer an. Oberstes Kriterium ist Zeitnähe. Das ist simple Akuttoxikologie. Darum geht es nie. Chronische Wirkungen dauern. Beliebt ist auch zu schreiben, es sei toxikologisch unplausibel von einer Giftwirkung auszugehen, wenn das Gift im Körper nicht nachweisbar ist. Das ist es aber fast in allen Fällen nicht mehr: Erst wird der Betroffenen krank, dann arbeitsunfähig und viel später beginnt die Ursachenforschung – das Gift ist längst verstoffwechselt, deshalb ist der Betroffene ja krank. Das weiß jeder.

Prozessbetrug ist heute systemimmanent. Aber das traut sich keiner zu sagen.

 

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4 Antworten auf Wissenschaftlicher Kopfstand

  1. PappaJo sagt:

    Ich frage mich warum die Gerichte so was mitmachen? Warum laufen diese Gutachter noch frei rum wenn hier absichtlich Fehler gemacht werden? Ein Gutachten dient doch der Wahrheitsfindung und nicht um den Geldbeutel des Auftraggebers zu schonen. Gutachter sollten zentral und immer von der Partei bezahlt werden, die verliert! Die kein Recht bekommt! Dann wäre die Befangenheit weg und der Gutachter würde so zu seinem Geld kommen auch wenn er die Wahrheit spricht. Ein Fehler im System! Würden die angeklagten Multis dann sogar von einem Gutachten Abstand nehmen wenn sie Wissen das sie die Kosten eh tragen?

    • Dr. Merz sagt:

      Die Gerichte glauben, dass es diese Krankheiten noch nicht gibt (unerforscht) und die Gutachter werden mit Karriere bezahlt. Schuld ist meines Erachtens die Betroffen selbst, weil sie auch denken, es gebe einen Forschungsbedarf.
      Patientenorganisationen und Umweltmediziner haben verschlafen, dass das Wesentliche schon in 80er Jahren erkannt und anerkannt wurde. Sie sind da auch völlig beratngsresitent – dann müssen sie eben leiden.

  2. Pingback: Unterlaufen der Gesetze – ein Fazit | Dr. Tino Merz

  3. Pingback: Symptome – große Vielfalt ist meist toxisch | Dr. Tino Merz

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